Wahrscheinlich steigt niemand mehr mit einem Hanfseil gesichert auf einen Alpengipfel – vor ein paar Jahrzehnten gab es dazu noch keine guten Alternativen. Heute gibt es dafür eine Vielzahl an Kunstfaserseilen mit viel besseren Eigenschaften; Seile, die sich nicht mehr mit Wasser vollsaugen und in der Kälte erstarren, und so nimmt man das Hanfseil heute eher fürs Tauziehen. Heute gibt es überhaupt sehr viele Seilvarianten – spezielle Seile für den Bootsbedarf, den Veranstaltungsbau, Hebearbeiten, für Kletterburgen etc., für die man bei der Herstellung immer seltener Naturfasern wie Hanf, Sisal, Manila oder Kokos verwendet, sondern statt dessen Kunstfasern wie Polyester, Polyamid (Nylon) oder Polypropylen. Die beiden grundlegenden Prinzipien, der Herstellung, Seile zu flechten oder sie zu drehen, sind aber die gleichen geblieben, nur dass die Arbeit mittlerweile von schnellen Maschinen erledigt wird.
Die Produktion eines geflochtenen Seiles ähnelt dem Tanz um einen Maibaum, wobei sogenannte Klöppel auf sich entgegenlaufenden Runden unterwegs sind und ihre Fäden zu einer gemeinsamen Mitte hin, wo sich die Fäden kreuzen, abgeben. Das ist stark vereinfacht, aber nach diesem Grundprinzip von gegenläufigen Kreisbewegungen entstehen seit Jahrhunderten geflochtene Seile. Heute gibt es unzählige Variationen, Materialien, Webarten und Zwischentöne bei geflochtenen Seilen, die noch einmal in Seile mit und ohne Kern unterteilt werden:
Seile mit Kern (auch: Seele, Einlage) werden um einen losen, verdrillten oder geflochtenen Faserstrang geflochten. Der ist gemäß den Erfordernissen mehr oder weniger dehnbar und fällt im Verhältnis zum geflochtenen Mantel dicker oder dünner aus. Einlage und Mantel übernehmen dabei nicht immer dieselben Funktionen: Während bei manchen Seilen beide Bestandteile tragende Funktion übernehmen, dient bei anderen der Mantel nur dazu, die Seele vor Abrieb oder Stößen zu schützen. Bei manchen Seilen werden die Kernfäden vorgereckt (vorgedehnt), um die Nachdehnung unter Belastung möglichst gering zu halten.
Bei Seilen ohne Kern werden die Fasern oder Faserstränge ohne Einlage verflochten. Das kann in Abhängigkeit von Verarbeitungsgeschwindigkeit und Webart (einflechtig, zweiflechtig, Spiralgeflecht ...) auch hier luftiger oder fester geschehen. In der Regel sind solche Seile elastischer. Je mehr Stränge miteinander verflochten werden, desto mehr ähnelt das geflochtene Seil einem Schlauch.
Normalerweise arbeiten Flechtmaschinen mit bis zu 48 Klöppeln, sind also bis zu 48-fach geflochten. Der Großteil der Seile ist 8- bis 16-fach geflochten. Ab 16 Fäden wird in der Regel um einen Kern gearbeitet, um oben beschriebene Schlauchbildung zu vermeiden.
Hier werden Fasern, beispielsweise Hanf, zunächst zu einzelnen Litzen (Kardeelen) verdreht. Diese werden dann zu drei- oder vierlitzigen (kardeeligen ...) Seilen mit oder ohne Einlage (auch hier Seele häufig genannt) noch einmal verdreht. Diese beiden Drehvorgänge werden in gleicher oder entgegengesetzter Richtung geschlagen, wobei im ersten Fall flexiblere, im zweiten Fall in sich festere Seile entstehen.
Tendenziell gilt: Gedrehte Seile sind in sich fester als geflochtene Seile, dafür weniger flexibel und kurvenfreundlich, aber auch etwas weniger verschleißanfällig und griffiger. Geflochtene Seile sind außerdem rotationsneutral, im Gegensatz zu gedrehten; das heißt, beim Heben einer Last neigt das geflochtene Seil nicht dazu, sich und die angehängte Last in einer Richtung zu drehen (nämlich entgegen der, in der es selbst gedreht wurde) – es ist drallfrei.
Seile werden auch heute noch aus Naturfasern wie Hanf, Sisal, Flachs oder Kokos hergestellt, wobei Hanf die höchste Festigkeit aufweist und DIE Naturfaser bei der Seilherstellung vor allem war und immer noch ist. Die meisten modernen Seile bestehen jedoch aus Kunstfasern – vor allem Polyester, Polyamid und Polypropylen, aber auch Polyethylen und anderen, neueren Kunststoffen mit immer besseren, immer spezifischeren Eigenschaften: hochfestes Polyethylen (HMPE), Aramid, LCP und PBO.
Die klassische Weise, zwei lose Seilenden (auch: Tampen) miteinander zu verbinden, ist das Spleißen. Dabei werden die einzelnen Litzen eines (gedrehten Seiles) miteinander verwoben. Unter Belastung dehnt sich das Seil, wird dabei dünner, und so erhöht sich die Reibung zwischen den miteinander verbundenen Litzen – eine solche Verbindung ist weitaus fester als mancher vielleicht zunächst annimmt. Auch geflochtene Seile können verspleißt werden, wobei das eine Seilende durch das Geflecht des anderen eingearbeitet wird. Der Effekt ist der gleiche: Unter Belastung zieht sich das Gewebe zusammen und hält die Verbindung.
Verschiedene Seile werden verschieden geschnitten: Kunstfaserseile schneidet man am besten mit einem Heißschneidegerät, da sich so die Fasern schon während des Schnittes miteinander verschweißen und nicht zerfasern. Bereits zerfaserte Seilenden kann man mit einem Feuerzeug oder einem Lötkolben erhitzen und mit den Fingern nachformen. Auch mit einem kräftigen selbstklebenden Gewebeband kann man offene Seilenden schließen. Naturfasern trennt man am besten mit einem Cutter, mit dem Heißschneider können sie nicht getrennt werden. Die Seilenden kann man mit Gewebeband zusammenhalten oder, noch viel eleganter, man taucht sie in Plasti Dip oder bepinselt sie mit flüssigem Latex und bekommt so gummierte Enden (oder gummierte, griffige Seilabschnitte).
In Abhängigkeit von Material und Oberfläche lässt sich ein Seil besser oder schlechter verknoten: Je steifer und gröber die Oberfläche/das Geflecht, desto fester sitzen die Knoten. Je höher die Flechtart, desto feiner das Seil und somit tendenziell desto geringer die Festigkeit. Besonders fest sitzen Knoten in einem nassen Hanfseil, was die Bergsteiger früher verzweifeln ließ. Eine Übersicht über viele Knoten findet man bei Wikipedia.
Was ist der Unterschied zwischen einem Tau und einem Seil, und was unterscheidet ein Seil von einer Schnur (von einer Trosse, von einem Strick, einer Leine, einem Fall, einer Strippe ...) Ein Hersteller antwortete uns: „Für uns gibt es geflochtene oder gedrehte Seile. Schnüre produziert Haribo auf seiner Lakritzschnecke.“ Man könnte eine Schnur aber durchaus auch als ein dünneres Seil definieren. Der Boots- und Schifffahrtsbereich hat seine eigenen Bezeichnungen: Trosse (Seile mit großem Durchmesser, Tau, Tauwerk (Oberbegriff für Seile), die Kletterer haben ihre Reepschnüre, dynamische (eher elastische) und statische (eher unelastische) Seile usw ... Ein und dasselbe Seil kann verschiedene Bezeichnungen haben, je nach Kontext; um die Geschichte abzukürzen, ein glasklare Begriffsbestimmung ist schwierig, wenn nicht unmöglich – Wittgenstein wäre bei dieser Thematik sicherlich verzweifelt.